Die gleichen, gleicheren und am gleichsten Geschwister
“Wir lehnen eine kirchliche Hierarchie ab, denn so etwas steht im deutlichen Widerspruch zum Wort Gottes und der geschwisterlichen Liebe. Wir sind überzeugt, dass die Einheit der Christen nach Gottes Willen nicht das Resultat eines menschlichen diktatorischen Systems sein kann, sondern ausschließlich dem Gehorsam gegenüber der Heiligen Schrift entspringt. Wir haben die Einheit, weil wir uns selbst in den Hintergrund stellen und dem nachfolgen wollen, was Gott in der Bibel für jeden verständlich offenbart hat“, kann man auf der Homepage der Christen lesen. Es ist aber nicht leicht, das in der Praxis auch umzusetzen. In einer geschwisterlichen Organisation ohne Abt kann eine Diktatur von Geschwistern entstehen, die älter sind und als erfahrener als der Durchschnitt angesehen werden – in Erinnerung an die „Ältesten“ der frühen Christen. Oder es entsteht eher eine Diktatur der Mehrheit, die eine kritische Minderheit aburteilt. Auf meine Frage, ob im 21. Jahrhundert eine geschwisterliche Gemeinschaft völlig ohne Institutionen, Regeln und Leiter keine Selbsttäuschung sei, antworteten die ehemaligen Mitglieder, die die Opfer der bei weitem nicht so perfekten Bruderschaft waren, folgendes: „Unter einem bestimmten Gesichtspunkt war es sehr institutionalisiert, denn sie strebten danach, alles zu regeln. Es gab unsichtbare Leiter, die besser positioniert waren und eine Dominanz anstrebten.“ (Norbert), „Die geschwisterliche Gemeinschaft wäre machbar gewesen, wenn wir einander mehr respektiert hätten“ (Antal), „Das konnte nur erfolgreich sein, wenn eine passende Mischung von Unerfahrenen und älteren Geschwister zusammen kam“ (Albert), „Eine angstfreie Gemeinschaft ist nur dann machbar, wenn jeder Liebe übt und keiner danach strebt, mehr zu lieben als die anderen“ (Tibor).
Es gab viele, die spürten, dass es da keine klaren Definitionen, Vereinbarungen und Regeln gab. Zum Beispiel: Wer ist ein „gehorsamer Bruder“, wer ist ein „älterer Bruder“[1], wer ist ein „Leiter des Lehrens“, was ist „geistlicher Gehorsam“, wann ist jemand „menschlich“ und wann „geistlich“, und ganz grundsätzlich: wer kann die Entscheidungen fällen, wann und worüber? „Wir glaubten an die Möglichkeit einer geschwisterlichen Gemeinschaft und wollten sie verwirklichen. Wir hatten keinen ernannten oder gewählten Leiter. Nach etwa einem Jahr, als ich als gehorsam angesehen wurde, wurde ich einige Male zu Treffen geladen, wo nur ältere und erfahrenere Geschwister teilnahmen. Ich war glücklich, eine Gemeinschaft gefunden zu haben, die die Schwachstellen unseres Zeitalters erkannte. Ich vertraute der Weisheit der älteren Geschwister. Ich glaubte, dass wir wie die ersten Christen lebten, auch wenn diese 50 bis 100 Seiten in der Bibel nicht exakt beschrieben, wie sie wirklich lebten. Meiner Meinung nach verwandelte sich das Ideal der geschwisterlichen Gemeinschaft in Radikalismus und Regelungswut. Ich denke, die Spiritualität kann so weiter gelebt werden, die Frage ist nur, welche Form sie annehmen soll. Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und Liebe waren hohe Werte in unserer Gemeinschaft, aber ungeachtet dessen gab es einige, die nach Dominanz strebten und die unterdrückten, welche diese Werte durch trugen. Sie erklärten viel mehr Dinge zur Sünde, als wirklich sündhaft waren“, erinnert sich Albert.
Die ehemaligen Mitglieder erklärten, dass „ihr Kampf für den Stand der Heiligkeit“ oft entstellt war oder zumindest falsche Methoden hervorbrachte. Vielmals kämpften sie gegen den Sünder statt gegen die Sünde. Sie legten viel zu viel Wert auf die fleischlichen, sexuellen Sünden. „Wir diskutierten oft darüber, wir befragten einander über intime Details. Dann wurde mit allen über diese Details gesprochen. Peinlichkeit und Einschüchterung waren an der Tagesordnung, weshalb es viele gab, die nicht über ihre wirklichen Meinungen, Zweifel, Sehnsüchte und Taten sprachen. Seelische Sünden wie Selbstgefälligkeit, Neid und Eifersucht wurden nicht so streng verurteilt, wie es eigentlich nötig gewesen wäre. Gerade durch solche Sünden konnte man einflussreiche Positionen erreichen. Wir waren offen für Versuchungen der verschiedensten Art: Ehrsucht, sich mit anderen zu vergleichen, Opportunismus, Furcht, Abhängigkeit, Überkritizismus, Machthunger, verfestigte Gewohnheiten, Persönlichkeitsveränderung, Ersatzbefriedigungen“, schrieb Aranka.
Das religiöse Leben der Gemeinschaft war vom Geist des Kollektivismus[2] geprägt. Deshalb geschah auch das Bekenntnis der Sünden vor einer größeren Gruppe: „Wir praktizierten das Gespräch über persönliche Probleme, Zweifel und Fehler, auch wenn die dafür nötige Vertrauensbasis nicht vorhanden war. Eine bestimmte Gewohnheit und Vorgehensweise war verbreitet, wie z. B. das Ausfragen über Details. An diesem Punkt respektierten wir kaum die Privatsphäre anderer. Und das machte die Ehrlichkeit noch schwieriger“ (Aranka).
Schließlich bemerkten die ehemaligen Mitglieder durchgängig eine Einschränkung der individuellen Freiheit: „Wenn jemand seine Eltern besuchen wollte, oder wenn jemand zur Schule gehen wollte, rieten wir ihm davon ab. Und wenn er dem Druck nicht mehr widerstehen konnte, fügte er sich. Wir bedrängten unzählige Leute, in andere Städte umzuziehen und entrissen sie aus ihrem ursprünglichen Umfeld. Dadurch wurden gewachsene Beziehungen zerrissen, die auf Liebe gründeten. Viele hatten das Empfinden, unter Beobachtung und Kontrolle zu stehen. Nur ein kleiner Kreis wusste viele Dinge. Einige ältere Geschwister hatten Privilegien: „Wir erwarteten von ihnen nicht die gleiche Offenheit und Bereitschaft, ihre Sünden zu bekennen“, erinnert sich Aranka. Der häufige Gebrauch der Attribute „gehorsam“ und „ungehorsam“, „menschlich“ und „geistlich“, „aktiv“ und „passiv“ zeigten den Unterschied zwischen den Gleichen und den Gleicheren.
Heute bereuen viele, dass sie mit dem Strom geschwommen sind, dass sie es zuließen, mit „respektvoller Aufmerksamkeit“ unterdrückt zu werden, oder wie ein Estnischer Bruder bemerkte: „Es hätte mehr Raum geben müssen für die Führung Gottes im Leben der individuellen Christen, um ein Gegengewicht zur Kontrolle durch die Gemeinschaft zu etablieren.“
[1] „Es war nicht genau festgelegt, wer ein älterer Bruder war. Dennoch war bei einigen die Stellung klar. Einige wünschten sich ernsthaft, als ältere Brüder angesehen zu werden, denn sie wollten etwas darstellen und mitunter bekamen sie es dann auch“ (Aranka).
[2] „Die Geschwister sagten, dass die Gemeinschaft von Gott geführt wird sowie von allen Geschwistern gemeinsam und nicht individuell“ (Béla).