Tipps für die Phase der Faszination
Eine Konfrontation des betroffenen Angehörigen mit kritischen Hinweisen ist nur so lange sinnvoll, wie ein ehrliches kritisches Gespräch möglich ist. In der Phase der Faszination ist ein Stand der Fanatisierung erreicht, wo kritische Informationen nicht mehr durchdacht werden. Sondern man verschließt sich ihnen, blockt sie ab oder wischt sie beiseite („Wir wissen, was für Lügen über uns erzählt werden!“). Der Holic-Anhänger empfindet die Kritik an der Gruppe unter Umständen als Kritik an sich selber und seiner Lebensform (über die er sich so glücklich fühlt, weil er meint, sie nach einer langen Phase des Suchens und Unbehagens endlich gefunden zu haben). Er meint, sich selbst verteidigen zu müssen, aber verteidigt damit de facto die Gruppe und identifiziert sich so noch stärker mit ihr.
Lassen Sie Ihren Angehörigen in dieser Phase spüren, dass Sie seine Entscheidung zwar nicht verstehen, aber akzeptieren. Kritische Hinweise sollten vermieden, sondern der Schwerpunkt darauf gelegt werden, den Kontakt zum Angehörigen zu erhalten. Deshalb sollte dieser Kontakt möglichst konfliktfrei gehalten werden. Der Betroffene ist sonst nicht nur aus Gehorsam gegenüber den Lebensregeln der Gruppe bestrebt, den Kontakt zu Familie und früheren Freunden möglichst gering zu halten. Sondern er macht es dann auch aus Gründen des Selbstschutzes, um für ihn unangenehme und belastende Gespräche zu vermeiden.
Im Gespräch mit bereits sehr engagierten Mitgliedern sollte weniger Werbung oder Agitation gegen die Sekte gemacht werden, sondern das Befreiende des eigenen Glaubens als ein positiver Gegenentwurf deutlich werden. Sektenmitglieder kommen dann am ehesten zum selbständigen Denken und können auf diesem Hintergrund Fehler und Schwächen der Sektenideologie erkennen. Überhaupt sollte ihnen durch das erlebte Glaubenszeugnis anderer Christen aufgehen, dass es auch außerhalb ihrer Gruppe Menschen gibt, die sich mit großem Einsatz um ein christliches Leben bemühen. Eine starke Argumentation gegen die Gruppe drängt den dort engagierten Angehörigen in eine Verteidigungsposition und schweißt die Mitglieder eher zusammen. Ebenso falsch ist es, an das Mitleid des Sektenangehörigen zu appellieren (vielleicht sogar noch mit der Drohung: "Wenn du nicht zurückkommst, bring' ich mich um!"). Sehr schnell wird einem dann entgegnet, dass es sich dabei doch bloß um egoistisches Selbstmitleid (ein beliebtes Schlagwort der Gruppe) handele. Auch eine plötzliche Umstellung im Lebensstil der Familie (z. B. öfters gemeinsames Bibellesen, was früher unüblich war) wird von dem Sektenmitglied als unglaubhaft und nur als Mittel zum Zweck empfunden, ihn von der Gruppe zu lösen.
Sinnvoll sind dagegen eher Fragen. Sie sollten allerdings weniger kritisch, sondern mehr auf Information gerichtet sein (z. B. wie sie sich die Verwirklichung bestimmter Ziele vorstellen) und das Sektenmitglied nicht sofort in eine Verteidigungsposition drängen. Ansonsten hört man meist sowieso nur die Antworten, die vorher in der Gruppe besprochen wurden. Durch die Fragen soll der Holic-Anhänger aber zum eigenen Nachdenken angeregt werden. Allerdings dürfen diese Fragen nicht als Mittel zum Zweck gebraucht werden, sondern es müsste schon echtes Interesse des Fragenden dahinterstehen. Ihr Angehörige sollte dabei auch nicht das Gefühl bekommen, ausgehorcht zu werden. Ebenso sollte man vermeiden, dass ein derartiges Gespräch in eine streitgeladene Diskussion abkippt. Hilfreich sind auch Gespräche oder Fragen über von der Gruppe sonst nicht behandelte Themengebiete, um den Horizont des Betroffenen über die Verengungen der Gruppe hinaus zu weiten. Allerdings kann es einem dabei passieren, dass der Holic-Anhänger ein solches Gespräch ablehnt oder als für ihn uninteressant abbricht.
Man wird bei solchen Kontaktversuchen bemerken, dass beim Sektenmitglied zwei verschiedene Identitäten vorhanden sind und sollte sich deshalb durch völlig gegensätzliche Verhaltensweisen nicht verunsichern lassen. Manchmal reagiert er normal und herzlich, kommt vielleicht sogar von sich aus zu Besuch: dann kommt die eigenen Identität zum Vorschein. Und kurze Zeit später ist er wieder kalt, abweisend und gefühllos: hier hat die angelernte Sektenidentität wieder die Oberhand. Sehr gut erklärt ist das (wie auch viele andere Dinge zu psychologischen Fragen in Sekten und der Ausstiegsberatung) in dem äußerst lesenswerten Buch von Steven Hassan "Ausbruch aus dem Bann der Sekten", rororo-Sachbuch 9391, ISBN 3-499-19391-4. Angehörigen und Freunden von Sektenmitgliedern ist die Lektüre dieses Buches trotz einiger inhaltlicher Schwächen zu empfehlen (z. B. werden im Buch zu sehr die manipulativen Mechanismen der Sekten gegenüber den sozialbiographischen Gründen betont, welche die Sekte für den Einzelnen attraktiv erscheinen lassen. Die neuere Forschung legt den Schwerpunkt eher auf die Disposition des Einzelnen für das Angebot der Sekte.)
Man sollte möglichst oft versuchen, die eigene Identität des Sektenmitglieds anzusprechen und die Sektenidentität einfach zu ignorieren. Dies geschieht vor allem über die Gefühlsebene. Dem Sektenanhänger fehlen in der Gruppe echte (d.h. bedingungslose) Liebe und Zuwendung. Er ist dafür unbewusst dankbar, auch wenn er nach außen ablehnend erscheint. Hier sollte man sich fragen, was den Holic-Anhänger früher angesprochen hat (Freunde, Geschwister, Hobby, Musik, Garten, Haustiere ...) und diese Dinge dezent pflegen. Einen plakativen Hinweis darauf ("Das hast Du doch früher immer so gern gemacht.") sollte man aber möglichst vermeiden. Der Holic-Anhänger meint dann sofort, sich gegen diese Gefühle in ihm wehren zu müssen, da das ja zu seinem früheren "sündigen" Leben gehörte.
Man muss aber wissen, dass die Initiative zum Kontakt immer wieder von einem selber ausgehen muss. Das Sektenmitglied wird sich von selbst nicht um einen Kontakt bemühen. Andererseits sollte man aber nicht zu aufdringlich erscheinen. Zu häufige Besuche, Anrufe oder Mails bewirken eher das Gegenteil. Es ist nicht leicht, hier eine richtige Balance zu finden.
Eine rein praktische Frage betrifft die Versicherungen. Normalerweise sind die Mitglieder durch ihre Arbeit krankenversichert. Allerdings ist die Gruppe mit ihren Kleinbussen auch in Nicht-EU-Ländern unterwegs, die nicht bei jeder Versicherung auch in den Versicherungsschutz eingeschlossen sind. Hier sollten die Eltern für ihre Kinder eine Auslandskranken- bzw. Auslandsunfallversicherung abschließen, da bei einem Unfall im Ausland hohe finanzielle Forderungen auf sie zukommen können.
An Geburtstagen und Weihnachten oder bei anderen Gelegenheiten empfehlen sich kleine praktische Aufmerksamkeiten, die der jeweilige Angehörige gebrauchen kann (z. B. Kleidung) oder die eine bestimmte emotionale Botschaft beinhalten (wie z. B. selbstgebackenes Gebäck). Vor allem bei letzterem sollte bedacht werden, dass es in der Gruppe geteilt wird - also möglichst etwas reichhaltiger bemessen sein sollte. Ein direkter Hinweis auf das Fest ("Das schenke ich Dir zum Geburtstag.") ist nicht angebracht, da diese Feste von ihnen abgelehnt werden. Evtl. schickt man es auch nicht am Festtag direkt, sondern einige Tage früher oder später. Von größeren, luxuriösen und kostspieligeren Geschenken ist besser abzuraten. Vom Anspruch des einfachen Lebensstils her werden sie eher als ärgerlich empfunden. Und wie auch bei ebenfalls zu vermeidenden Geldgeschenken kommt der Erlös nicht dem eigenen Angehörigen, sondern nur der Gruppe als ganzer zugute. Diese Beträge sollte man lieber auf ein Konto einzahlen, damit der Angehörige nach seinem eventuellen Ausscheiden aus der Sekte eine finanzielle Basis für den Aufbau einer eigenen Existenz bekommt. Und natürlich sollte man alles vermeiden, was von der Gruppe abgelehnt wird (z. B. Süßigkeiten, Alkohol, Unterhaltungsmedien und -lektüre).
Auch wenn ein Holic-Anhänger ansonsten jeden engeren Kontakt mit den "sündigen" Eltern ablehnt, so gibt es da in Geldangelegenheiten eine Ausnahme: Hier informieren sich die Gruppenmitglieder mitunter sehr genau, was ihnen z. B. an Unterhalt zusteht und fordern das auch rigoros ein. Das Geld geht in der Regel in die Gruppe und dient auch dem sicher nicht billigen Unterhalt der Mercedes-Kleinbusse. Für die Eltern empfiehlt sich hier eine Rechtsberatung, um die Summen so gering wie möglich zu halten.
Da wir nicht Zeit und Stunde kennen, sollte man auch für den Fall des eigenen Todes mit einem Testament vorsorgen, dass nicht die Sekte in den Genuss des Erbes kommt. Vielleicht findet sich ein zuverlässiger und vertrauenswürdiger Verwandter oder Freund, dem man die Dinge erst einmal vermacht. Er verwaltet sie und übergibt sie dem Angehörigen nach dem Austritt aus der Sekte. Auch hier wäre eine Rechtsberatung zu empfehlen.
Ihre Aktivitäten in dieser Phase sollen vor allem bei Ihrem Angehörigen die Gewissheit stärken, dass sie ihm jederzeit helfen werden (ohne dass Sie dabei den möglichen Austritt oder Ausschluss direkt erwähnen).
Gerade am Anfang dieser Phase, wenn Ihr Angehöriger erst seit kurzem in der Gruppe ist, wird er versuchen, möglichst viele in seinem bisherigen Umfeld zu missionieren und zu „bekehren“. Das kann per Mailwechsel, Telefonat oder Skype geschehen. In der Regel handelt es sich dabei um einen einmaligen oder nur kurzzeitigen Kontakt. Wenn der andere sich nicht missionieren ließ, meint der Holic-Anhänger, ihn wenigstens mit der „Wahrheit“ konfrontiert zu haben. Wer sie nicht annimmt, habe gezeigt, dass er verworfen ist und dass sich ein weiteres Gespräch mit ihm nicht lohnt. Fühlen Sie sich deshalb nicht gekränkt, wenn der Holic-Anhänger nach einem aus seiner Sicht erfolglosen Gespräch mit Ihnen den Kontakt stark einschränkt und stattdessen intensiveren Kontakt mit ferner stehenden Verwandten oder Freunden sucht. Auch diese Kontakte dienen nur der Missionierung und werden nach kurzer Zeit abgebrochen.