Charismatische Gemeinden

Neben den charismatisch (pfingstlerisch/pentecostal) geprägten Gemeinschaften, die innerhalb der großen Kirchen existieren, ist inzwischen eine Vielzahl von unabhängigen Gemeinden entstanden. Diese charismatischen Gemeindeneugründungen gibt es in den verschiedensten Orten. Sie tragen sehr phantasievolle Namen, wie z. B.: Jesus-Gemeinde, Christliches Zentrum, Glaubenszentrum, Josua-Gemeinde, Kraftwerk, Immanuel-Gemeinde, Christliche Hausgemeinde, Ichthys ...

Diese Gemeinden sind keiner Kirche oder Freikirche angeschlossen, sondern für sich selbständig und deshalb in ihrer Struktur sehr verschieden. Eine generelle Einschätzung ist darum nicht möglich, sondern man muss auf die konkrete Gemeinde schauen, die meist sehr stark vom entsprechenden Leiter bzw. Leitungsteam geprägt wird.

Allgemein ist zu sagen, dass das Eingebundensein in größere Zusammenhänge (eine der großen Kirchen, Bund Freier Pfingstgemeinden ...) einen gewissen Schutz bietet, dass sich keine Sektenstruktur bildet. In diesen Zusammenschlüssen geschieht auch Gedankenaustausch und gegenseitige Korrektur. Aber auch völlig eigenständige Gemeinden müssen nicht automatisch konfliktträchtig sein.

Kriterien zur Beurteilung

Worauf müsste man aber achten, um eine mögliche Konfliktträchtigkeit einer Gemeinde einzuschätzen? Sollten folgende Kriterien in einer Gemeinde verstärkt auftreten, würde dies auf eine eher problematische und konfliktträchtige Struktur dieser Gemeinde hindeuten:

  • Der Teufelsglaube mit der damit verbundenen Angst und dem stark ausgeprägten Gedanken des Kampfes gegen den Teufel spielen eine große Rolle. Sehr häufig kommen Teufelsaustreibungen (auch als "Befreiungsgebet" oder "geistlicher Kampf" bezeichnet) vor. Bestimmte Gegenstände, aber auch Orte und Personen werden recht schnell als "dämonisch belastet" charakterisiert.
  • Die Geistheilung (durch Gebet bzw. Handauflegung) spielt eine sehr große Rolle und vermittelt den Anhängern das Gefühl, dass ihnen dort besser als in der wissenschaftlichen ("Schul-") Medizin geholfen wird. Eventuell wird sogar behauptet, dass eine ausbleibende Heilung ihre Ursache im mangelnden Glauben bzw. Beten des Kranken habe.
  • Das Mitglied hat kaum intensivere Freundschaften außerhalb der Gruppe, sondern wird angehalten, auch die menschlichen Beziehungen vor allem innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu suchen.
  • Es wird in der Regel nur abschätzig über andere Kirchen und Gemeinden gesprochen. Andere Glaubensauffassungen gelten als teuflisch.
  • In der Gemeinde selber gibt es keine Kritik. Eine kritische Reflexion der eigenen Glaubens-, Gemeinde- und Lebenspraxis findet nicht statt.
  • Die Außenbeziehungen sind von Gruppenegoismus geprägt. Falls überhaupt (soziale) Aktivitäten in der Gesellschaft stattfinden, dann mit dem Hintergedanken, auf diese Weise neue Mitglieder zu gewinnen bzw. das Image der Gemeinde zu verbessern.
  • Die Leiter der Gemeinde haben keinen Blick für die Vielfalt christlicher Lebensstile und Spiritualitäten, sondern halten eine bestimmte Form von Spiritualität bzw. einen bestimmten Lebensstil für den einzig möglichen. Sie wissen meist erstaunlich genau, was Gott von einem bestimmten Mitglied erwartet und lenken ihn dadurch in seinem Lebensvollzug.
  • Gottes Segen manifestiert sich nach Ansicht der Gemeinde ganz deutlich im jetzigen Leben: Wohlstand, Erfolg, Glück und Gesundheit sind Zeichen von Gottes Segen. Krankheit, Armut, Misserfolg und Leid sind Strafe für eigenes Versagen bzw. eigene (evtl. dämonische) Belastetheit. (sog. "Wohlstandsevangelium")

Kritische Anfragen

Die folgenden Punkte sind kritische Anfragen von Seiten der großen Kirchen mit eher theologischem Hintergrund, die jedoch kein Hinweis auf eine konflikthafte Struktur im Sinne von Sozialunverträglichkeit bzw. Sektenhaftigkeit sind. Sie beruhen zu einem großen Teil auf Anregungen meines ev. Kollegen, Dr. Harald Lamprecht:

  • Ist in der Gemeinde auch Raum für die Erfahrung des Scheiterns, der Trauer und des durchgetragenen Leids? Mitunter hat man den Eindruck, dass für solche genuin menschlichen Erfahrungen neben Lobpreis und Heilungsversprechen kein Platz mehr ist.
  • Ist die Aufstellung einer Hierarchie der Geistgaben theologisch richtig? Oft werden "übernatürliche" Gaben (Heilung, Sprachengebet, Prophetie) als höherwertig gegenüber "natürlichen" Gaben (Organisationstalent, Freundlichkeit, Einfühlungsvermögen) gesehen. Drückt sich darin auch eine Sucht nach dem Besonderen, Außergewöhnlichen und Aufregendem aus? Zeigt sich darin eine ähnliche Erwartungshaltung wie in der auf spektakuläre Events orientierten Erlebnisgesellschaft? Versucht man damit sich selbst eine besondere Qualität des Christseins zu verschaffen?
  • Es wird oft das freie Wirken des Geistes für alle verkündet. Sieht die Praxis aber nicht so aus, dass es dennoch einzelne Personen sind, welche den Besitz besonderer Geistesgaben für sich reklamieren bzw. zugesprochen bekommen und dann meist Leitungsfunktionen übernehmen? Inwieweit kann ein einfaches Gemeindemitglied die gleiche Geistesgabe für sich und entsprechende Autorität für die eigenen Äußerungen reklamieren? Wird der proklamierte Besitz von Geistesgaben bzw. Gesalbtheit auch als Machtinstrument gebraucht?
  • Negiert die oft praktizierte erneute Taufe von bereits als Kind getauften Christen (Wiedertaufe) nicht das Christsein aller als Kind getauften Christen? De facto gelten diese ja anscheinend als ungetauft. Die gegenseitige Anerkennung der Taufe eint ansonsten die gesamte ökumenische Christenheit (evangelisch, katholisch, orthodox, anglikanisch...). Und wird durch die Fixierung auf den Entscheidungscharakter der Taufe das segnende Wirken Gottes in der Taufe weniger beachtet?
  • Führt die weitere Fortgründung einzelner selbständiger Gemeinden nicht zu einer weiteren Aufspaltung des einen Leibes Christi? Birgt es die Gefahr einer Verkomplizierung der Ökumene durch die enorme Vermehrung von möglichen Partnern? Spielt der Gedanke der Einheit des Leibes Christi in diesen Gemeinden theologisch überhaupt eine Rolle?
  • Besteht in für sich selbst existierenden Gemeinden eine größere Gefahr "theologischer Inzucht"? Wie findet der befruchtende und auch relativierende und korrigierende Austausch mit anderen theologischen Richtungen statt?
  • Wenn der Gemeindeleiter zugleich die letzte Autorität ist: An welche übergeordneten Kontrollinstanzen kann sich ein Gemeindemitglied noch wenden, wenn es zu massiven Konflikten bis hin zum Machtmissbrauch des Gemeindeleiters kommt?
  • Ist die Neugründung von eigenen Gemeinden mit relativ homogener Struktur ein Zeichen der fortschreitenden Individualisierung und Nischenkultur der Gesellschaft (Cocooning)? Könnte dahinter auch die Neigung stehen, sich in die Nische der homogenen Gruppe Gleichgesinnter (und oft auch Gleichaltriger) zurückzuziehen? Fehlt die Fähigkeit, verschiedene Glaubens- und Lebensstile auszuhalten und sich ggf. von ihnen auch befruchten zu lassen?
  • Oft wird von einer größeren Breite an musikalischen und gottesdienstlichen Formen in diesen Gemeinden gesprochen. Ist es in der Praxis aber nicht auch wieder eine Beschränkung auf einen ganz bestimmten gottesdienstlichen Stil und eine musikalische Verarmung durch die Beschränkung auf Stilelemente der Popkultur?

Kritische Anfragen an die Kirchen:

  • Gaben entdecken (Mitmachen statt Betreuung)
    Kleinere Gemeinden beeindrucken durch den hohen Grad an Engagement der Mitglieder für ihre Gemeinde. Das ist zum einen in homogenen und kleinen Gruppen leichter als in größeren und heterogenen Gemeinden. Allerdings müssen sich die Großkirchen fragen lassen, ob zuviel geregelt und organisiert ist und neben den Hauptamtlichen zu wenig Raum für das Engagement des Einzelnen bleibt.
  • Zielgruppenorientierung (Bedürfnisanalyse statt Traditionspflege)
    Schauen die großen Kirchen zu wenig auf die aktuellen Anliegen und Bedürfnisse, sondern sehen sich vor allem als Bewahrer und Weitergeber von seit längerem praktizierten Formen und Stilen? Geben sie sehr umfangreich Antworten auf Fragen, die inzwischen keiner mehr stellt? Müssten sie nicht näher an den Lebensfragen heutiger Menschen und heutigen Formen des Ausdrucks (sprachlich, stilistisch und musikalisch) in Gottesdienst, Verkündigung und Gemeindeleben sein?
  • Zukunftsorientierung (hoffen und beten statt bangen und klagen)
    Überwiegt eine Vergangenheitsorientierung ("Wie voll waren die Kirchen früher..") und pessimistische Zukunftssicht, während visionäre und hoffnungsvolle Entwürfe für die Zukunft fehlen? Führt das eher zur Entmutigung als zur Motivierung?

Auf der folgenden Seite "Kirche und Sekten" geht es um die Faszinationskraft von kleinen Gemeinschaften mit relativ kurzer Geschichte im Vergleich zu größeren Organisationen (Kirchen) mit längerer Geschichte. Manche der dort genannten Dingen können durchaus auch auf neue Gemeindegründungen zutreffen, ohne diese damit in die Sektenecke zu stellen.

Weitere Informationen

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