Als ein „früher Christ“ in einer postmodernen Welt leben

Die Religionssoziologie unterscheidet zwischen der westlichen Aszese (die das Ziel hat, sich in der Welt zu stärken) und der östlichen Aszese (die sich gegen die Welt wendet bzw. sich von ihr zurückzieht und stärker kontemplativ ist). Bei der Mehrzahl der monastischen Orden in Europa findet man eine Kombination aus beiden. Im Unterschied zur westlichen Aszese haben die Christen verschiedene fundamentale Werte der gegenwärtigen Welt zurück gewiesen, wie z. B. Privateigentum und Ehe-Partnerschaft. Gleichzeitig haben sie sich – im Unterschied zur östlichen Aszese nicht komplett aus der Welt zurück gezogen, denn die meisten von ihnen haben zivile Berufe, auch wenn ihre Hauptaktivität in der Mission besteht. Ihre Aszese unterscheidet sich von der östlichen vor allem in folgenden Aspekten: es gibt keine Kontemplation und der Aktionismus wird in ihrem religiösen Leben überbetont. Sie erinnern in einigen Aspekten an die Zeugen Jehovas (z. B. feiern sie keine Festtage und haben nur sehr wenige Zeremonien). Allerdings pflegen die Zeugen Jehovas stärker ein ziviles Leben (z. B. als Familie). Es gibt Ähnlichkeiten zwischen ihnen und introvertierten Sekten (die nach innen gewandt sind und sich aus der Welt zurückziehen), aber einerseits ist die Radikalität der Traditionsbewahrung nicht charakteristisch für ihren Lebensstil, und andererseits leben die Christen im Unterschied zu den Hutterern oder Amish, die viele Kinder haben, wie zölibatäre Mönche. Sehr viele Erscheinungsformen der europäischen monastischen Tradition sind für sie charakteristisch. Jedoch fehlt in ihrem Fall ein Abt, der die Brüder leitet. Weiterhin leben beide Geschlechter zusammen und fleischliche (körperliche) Aktivitäten werden in ihre Aszese eingegliedert (in der Form des so genannten „Raufens“). Sie unterscheiden sich auch von den Gemeinschaftsformen postmodernen christlichen Mönchstums, wo Menschen mit verschiedener Berufung zusammen leben: Zölibatäre und Familien[1].

In gewisser Hinsicht – und vermutlich in den meisten Punkten – erinnern mich die Christen an die Jesus-Bewegung (die damals als eine Erneuerungsbewegung im Judentum wirkte) und an die charismatischen Wanderprediger der frühen Christenheit, welche die Jesus-Bewegung weiterführten. Mit ihnen teilen sie auch ihr Leben außerhalb der Gesellschaft, das Verlassen ihrer Heimat und Familien, ihr missionarisches Herumziehen wie auch die Tatsache, dass die Mehrzahl von ihnen für ihren Lebensunterhalt arbeitet. Aber in der frühen Christenheit entstand neben der Lebensform der Wanderprediger mit ihrem radikalen Wertesystem eine weniger radikale und rigorose Ausprägung. Diese wurde stärker, dann gleichrangig und schließlich dominierend. Dies war in der frühen Christenheit eine Form der Aszese, die für die Welt stärken sollte (Theissen 2006). Im Unterschied dazu „deklarierten wir (die Christen) unseren Lebensstil als den einzig möglichen für Christen“ (L. aus Estland). Sie unterschieden sich auch in der Tatsache, dass sie sich theoretisch gegen Tradition und strenge Bräuche stellten. Gleichzeitig konnte man vor 10 Jahren (was später von ehemaligen und ausgeschlossenen Mitgliedern bestätigt wurde) gut sehen, dass sich ungeachtet dessen ihre eigene Tradition entwickelte und feste Formen annahm: „Theoretisch lehnten wir jede Tradition ab, trotzdem formten wir unsere eigenen Praktiken. Da gab es grundsätzlich akzeptierte Gepflogenheiten, wie wir unsere Zeit verbrachten, die überall befolgt und zu einem Maßstab für die gegenseitige Beurteilung wurden.“ (Aranka)

Auch wenn der zufällige Besucher einige spontane Elemente in ihrem Lebensstil beobachten konnte – zum Beispiel das Schlafen am Tage nach einer nächtlichen Diskussion religiöser Themen -, gab es doch einige Gepflogenheiten und Programme, welche sogar die Mehrheit der ausgetretenen und ausgeschlossenen Mitglieder an sich als gut empfanden, aber gleichzeitig fühlten, dass diese allgemeinen Praktiken und ihr Verpflichtungscharakter bedrückend und unnötig war. (Zum Beispiel: die täglichen Wanderungen zu zweit mit obligatorischen Gesprächen, die „Themen“, das Raufen und das verpflichtende Treffen jeden Tag). Die meisten von ihnen äußerten, dass diese Gepflogenheiten auf Kosten „der persönlich mit Gott verbrachten Zeit“, „privater Ruhezeit“[2], täglicher Gewissenserforschung und Kontemplation gingen. Die Aussage: „Dafür hätte es mehr Zeit geben sollen“ kann man verstehen als „Da hätte es mehr Freiheit geben sollen“. „Uns wurde gelehrt, dass nichts davon zur Diskussion stünde. Wir dachten nicht, dass unsere Lebensform nur eine Möglichkeit unter anderen sein könnte. Wir erwarteten, dass andere unsere Gepflogenheiten und Tageseinteilung übernahmen. Wir fragten nie, ob unser Lebensstil vielleicht zu radikal wäre. Die Geschwister aus Litauen, Estland und Rumänien konnten nicht verstehen, warum derselbe Lebensstil sowohl von einer Gruppe verlangt würde, die in einer osteuropäischen Stadt lebte, wie auch von denen, die viel weiter westlicher lebten“ erklärt Aranka in ihrer Analyse.

In dieser Gemeinschaft wurde der protestantische Aktionismus, der charakteristisch für westliche Mystik ist, nicht mit der protestantischen individuellen Religiosität verbunden. „Wir betonten, dass jeder aktiv sein muss. Und wenn jemand nicht innerlich an etwas interessiert war, führte das dazu, dass man es des guten Anscheins wegen tat. Also entschieden sich manche für die Strategie, keine Diskussionsrunde zu versäumen. Aber wenn sie dort waren, schliefen[3] sie oder dachten an irgendetwas anderes. Es wurde eine allgemeine Methode, bei der Auswahl der Bibelstellen abzustimmen, anstelle sich von geistlicher Überlegung zur Entscheidung leiten zu lassen. Dementsprechend konnte man eine gewisse Tendenz zu geistlicher Nachlässigkeit beobachten – in der Meinung, dass das System die nötige Sicherheit verschaffte. Die Strenge und die hohen Erwartungen garantierten nicht, dass nicht einige einfach mit dem Strom schwammen. Wir diskutierten oft über Aufopferung, aber das war keine ausreichende Absicherung. Auch wenn dieser Lebensstil den ganzen Menschen verlangte, konnte er doch halbherzig gelebt werden“, diagnostizierte Aranka die Religiosität ihrer früheren“ aktiven“ Gemeinschaft.

Ihnen wurde vorgeworfen, übermäßig zu fasten und andere dazu zu drängen, aber meine Beobachtungen vor 10 Jahren widersprachen dem. Nach den Aussagen ehemaliger Mitglieder fußt das auf Erfindung und Haarspalterei[4] - es sei denn eine grandiose Umgehung der Regeln wäre bei ihnen üblich[5].

Die ehemaligen Geschwister betonten das Für und Wider des erzwungenen[6] Zusammenlebens, aber heute sehen sie vor allem die negativen Aspekte an der Errichtung einer idealen Gemeinschaft, um so mehr, als sie fast alle dabei zum Opfer wurden. Die ideale Gemeinschaft – ungeachtet der Tatsache, dass einige empfanden, die älteren Geschwister würden „nicht immer ihren freiwilligen Charakter respektieren“ – machte viele Mitglieder zu bequem, unselbständig oder unfähig, Verantwortung zu übernehmen Und es verringerte die Motivation der Unbeschäftigten, sich eine Arbeit zu suchen. Auf der anderen Seite waren viele der Ausgetretenen oder Ausgeschlossenen auf verschiedene Weise unglücklich: „Sie überzeugten einen von uns, seine Wohnung zu verkaufen, was er tat, obwohl er es nicht wollte. Er erhielt nur das Geld für sie, als er zwei Jahre später ausgeschlossen wurde, obwohl er Waise war. Ein Ausgeschlossener wurde schnell weggeschickt oder aus der Wohngemeinschaft entfernt. Wir erwarteten, dass ein neues Mitglied alles in die Gemeinschaft einbrachte, aber es wurde nie geklärt, was es im Falle des Zerbrechens der Beziehung zurückbekam.“ (Aranka).

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[1] Wie die katholische „Gemeinschaft der Seligpreisungen“ in Ungarn.

[2] „Durch die große Zahl der Aktivitäten hatten wir kaum genug Zeit um unsere persönliche Beziehung mit Gott zu vertiefen. Jedoch ist diese (persönliche stille Zeit) nötig, damit wir uns nicht selber von ihm entfernen. Gott möchte uns lehren, uns persönlich pflegen, damit wir später jedem anderen Werk dienen können“ (Aranka)

[3] Viele Jahre lang ließen wir einander nicht ausreichend schlafen, weil wir es z. B. an den Wochenenden erwarteten, dass man um 2 Uhr am Morgen aufstand und dann wach blieb, um eine Diskussionsrunde bis zum Morgengrauen zu halten. Du konntest dich weigern, aufzustehen, aber wer das tat, wurde als „nicht eifrig“ eingestuft. Viele sprachen sich gegen die nächtlichen Diskussionsrunden aus. Einige verließen in der Folge davon die Gemeinschaft. Als wir uns schließlich zu einer Änderung dieser unnatürlichen und extremen Zeitplanung entschlossen, konnte sich die Gemeinschaft nicht dazu durchringen, eine Entschuldigungen denen gegenüber auszusprechen, deren diesbezüglichen Anliegen früher unfair zurückgewiesen wurden.“ (Aranka)

[4] Zum Beispiel das Verbot von Speiseeis.

[5] Es gab eine Zeit, wo einige Fruchtsaft kaufen wollten: wir verurteilten sie. Heutzutage gibt es jedoch einen Haufen an Fruchtsaft-Kästen in Kisbükk und das Problem ist eher die Verschwendung und der unverantwortliche Verbrauch.“ (Aranka)

[6] „Das Zusammenleben hat seine Herausforderungen, aber wir erwarteten von jedem das Leben in Wohngemeinschaften. Aber wenn wir mit Außenstehenden sprachen, betonten wir immer, dass dies keine Bedingung sei. Einige von uns waren beschämt, dass wir mit so vielen Leuten zusammen lebten und noch dazu in so einer zusammengewürfelten Gruppe, so dass wir wo immer wir konnten, ausweichende Antworten gaben, um keine Entrüstung hervorzurufen. (Aranka)

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