Sind Sekten das schlechte Gewissen der Kirchen?

Mitunter liest man Sätze wie "Während jährlich Massen von Katholiken und Protestanten ihren Kirchen den Rücken kehren, haben die Sekten ungebrochenen Zulauf."

In der Realität gibt es weder die Massen von Kirchenaustritten (sie bewegen sich zwischen 0,4 und 0,9 % jährlich) noch den großen Run auf die Sekten. Letztere sind seit ca. 40 Jahren von der Zahl ihrer Mitglieder her relativ bedeutungslos.

Ein anderer Vorwurf lautet: "Die Sekten sind ein Zeichen für das Versagen der Kirchen." Dahinter steht die Frage, warum Menschen ihre religiöse Heimat nicht in den Kirchen gefunden haben, sondern zu Sekten gehen - oft verbunden mit dem Vorwurf, dass es sich dabei um Versäumnisse der Kirchen handelt und die Sekten ihnen einen kritischen Spiegel vorhalten.

Es gibt natürlich einige Dinge, welche Sekten für einzelne Personen attraktiv machen. Jedoch darf man mit Recht fragen, ob es sich dabei um ein "Versagen der Kirchen" handelt - ob die Kirchen solche Dinge also überhaupt anbieten können und wollen:

  • Als kleine Gruppen haben Sekten die Faszination eines intensiveren Gruppenklimas, der stärkeren Zuwendung zum Einzelnen und des größeren Zusammenhalts in der überschaubaren und geschlossenen Gruppe. Das wirkt auf manchen anziehender als die oft erlebte Anonymität von großen Gemeinschaften und Kirchen - gerade wenn jemand unter Einsamkeit leidet und Gemeinschaft sucht. Der Nachteil liegt darin, dass diese verstärkte Binnenkommunikation in Sekten durch eine Beschränkung der Außenkommunikation entsteht. Intensivere zwischenmenschliche Beziehungen werden auf die eigene Gruppe reduziert.
    Dagegen lässt die unverbindlichere Atmosphäre in Großkirchen dem Einzelnen die Freiheit, selbst über das Maß an Nähe und Distanz zu entscheiden, das er zu seiner Gemeinde haben möchte.
    Gruppen mit sehr intensivem Binnenklima haben meist auch vereinnahmende Tendenzen und einen hohen Gruppendruck. Besonders zu spüren wird es bei verordneter Harmonie, wo bestehende Konflikte verleugnet, in die Psyche des Anhängers verlagert oder sogar als dämonisch verteufelt werden. In Gruppen mit starkem innerem Harmoniedruck müssen die Mitglieder ihre Aggressionspotentiale oft unterdrücken. Mitunter sucht sich das intern verdrängte Aggessionspotential dann nach außen in einer umso hasserfüllteren Bekämpfung der vermeintlichen äußeren Gegner ein Ventil.
    Eine Gefahr des intensiven Gruppenklimas kann auch darin bestehen, dass man sich in seinem Engagement auf die eigene Gruppe fixiert. Sozialer Einsatz oder Weltverantwortung treten demgegenüber zurück oder sind von zufälligen Kontakten der Gemeinschaft abhängig. Die großen Kirchen haben durch ihr Eingebundensein in eine Weltkirche und -ökumene besser Kenntnis von den weltweiten Problemen und bedeutend mehr Möglichkeiten, helfend aktiv zu werden.
  • Ein weiteres Merkmal von Sekten ist ihre sehr homogene Struktur. Man trifft dort in der Regel nur Leute, die einen in der eigenen Lebensentscheidung bestätigen. Es sind Gruppen von 100%ig Engagierten - im Unterschied zu den Großkirchen mit ihren sehr verschiedenen Stufen von Engagement und Identifikation sowie den verschiedenen theologischen Richtungen (von konservativ bis progressiv) in ihnen.
    Homogene Gruppen können angenehmer sein, weil man in ihnen nicht durch andere Glaubens- und Lebensstile in seiner eigenen Entscheidung angefragt (und evtl. verunsichert) wird, sondern fast ausschließlich Signale der Bestätigung erhält. Gerade unsichere Menschen fühlen sich mit ihren Zweifeln in dieser Atmosphäre der Gewissheit aufgehoben. Allerdings schließt das auch wieder viele aus, die sich nicht in diesem Maße damit identifizieren können bzw. ihr Leben so stark von der religiösen Gemeinschaft prägen lassen wollen. In den Großkirchen gibt es Raum für verschiedene Spiritualitäten und unterschiedliche Stufen des Engagements und der Identifikation.
  • Weiterhin vermitteln Sekten ein Gefühl des Auserwähltseins, des Zur-Elite-Gehörens - wozu in der Regel auch ausgeprägte Feindbilder gehören. Das wird mitunter als sinnstiftend bzw. als Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls erfahren. Solche Haltungen können und wollen die großen Kirchen nicht vermitteln.
  • Mancher empfindet eine Sekte auch als Rückzugsraum aus einer als böse, verkommen, bedrohlich und kalt empfundenen "Welt" - eine Art Alternativgesellschaft. Das in Sekten vorherrschende dualistische Weltbild (Gut - Böse, Wir - der Rest der Welt) entspricht dabei dem Lebensgefühl manches von der Welt und dem Leben Enttäuschten. Auch das können und wollen Großkirchen nicht vermitteln, die sich aufgerufen sehen, diese Welt mit zu gestalten. Sekten hingegen wirken nicht gesellschaftsgestaltend, sondern ziehen sich in ein selbst gewähltes Ghetto zurück. Mitunter werden zwar Gesellschaftskonzepte aufgestellt. Allerdings sind diese dann so phantastisch, dass eine Umsetzung völlig unrealistisch ist.
  • Typisch für Sekten ist auch eine Praxis, die man als "Rotkäppchen-Prinzip" bezeichnen kann. Sekten wissen in der Regel sehr genau, welcher Lebensweg der allein richtige für einen ist (ähnlich dem Bild aus dem Märchen: "Nur geradeaus auf diesem Weg geht es zur Großmutter, rechts und links lauert der böse Wolf."). Das wirkt auf Menschen anziehend, die von einer pluralen Gesellschaft und der Vielzahl der in ihr existierenden Lebensstile und -möglichkeiten verwirrt sind. Sie fühlen sich überfordert, sich in dieser Vielfalt der Optionen entscheiden zu müssen und sind dankbar, wenn ihnen jemand eindeutig sagt, wo es lang geht.
    Die Faszination des Fundamentalismus ist nebenbei gesagt typisch für plurale Gesellschaften. Die im Fundamentalismus vermittelte Eindeutigkeit gilt dabei sowohl für Fragen der Lebensgestaltung als auch für religiöse Themen. Kirchen verstehen sich demgegenüber als Teil der pluralen Gesellschaft und haben ein im Laufe ihrer Geschichte erworbenes Wissen von der Vielfalt der Spiritualitäten, Lebensstile und Wege, die zu Gott und zu einem gelingenden Leben führen (ohne dabei zu verleugnen, dass es auch Lebensstile gibt, die von Gott weg führen und das Leben beeinträchtigen). Auch in ihren religiösen Aussagen bleibt ein Raum der Unsicherheit, des Geheimnisses Gottes. Sekten vermitteln demgegenüber eine geschlossene Lehre, die keine Fragen offen lässt.
  • Gerade neuere Sekten haben die Faszination des Neuanfangs und Aufbruchs. Sie verfügen noch über wenig Geschichte (und den damit verbundenen Brüchen und dunklen Seiten in der Geschichte) und strahlen eine gewisse Frische aus. Prozesse des Einzugs von Routine und der Institutionalisierung sind noch nicht so ausgeprägt bzw. erst im Entstehen. Bei allen schon länger existierenden Gemeinschaften (von den großen Kirchen über die Gewerkschaften bis zum Deutschen Fußballbund) haben diese Prozesse der Institutionalisierung längst stattgefunden - und waren auch geschichtlich notwendig, damit diese Gemeinschaften über längere Zeit bestehen konnten.
    Ebenso weiß jede Gemeinschaft mit längerer Geschichte um eigene Irrwege und Versagen. Demgegenüber ist bei Sekten oft zu beobachten, dass eigenes Versagen verleugnet bzw. einzelnen "unerleuchteten" Mitgliedern in die Schuhe geschoben wird. So wird die "Reinheit" der eigenen Gruppe nach außen und im Empfinden der Mitglieder gewahrt.
  • Neue Gemeinschaften können in ihren Verheißungen vollmundiger auftreten. Gemeinschaften, die schon länger existieren, haben im Laufe ihrer Geschichte auch Enttäuschungen und das Scheitern von großen Entwürfen erlebt. Sie haben erfahren, wie schwierig es ist, manche Veränderungen in der Gesellschaft bzw. bei sich selbst zu erreichen. Das hat sie etwas realistischer und weniger enthusiastisch werden lassen.
    Mancher meint auch, die Antworten der älteren Kirchen und Religionen zu kennen und erwartet von ihnen nicht mehr viel. Im Laufe der Geschichte haben sie aus seiner Sicht zu wenig bewirkt, so dass er sich von neueren bzw. für ihn bisher unbekannten Gemeinschaften neue Lösungen erhofft. Interessant ist dabei, dass Gemeinschaften, die z. B. in Asien auch schon eine jahrhundertealte Tradition verkörpern, im westlichen Umfeld als neu und unverbraucht erlebt werden, während sie in ihren Herkunftsländern ein ähnliches Image wie die großen Kirchen bei uns haben - und umgedreht die christlichen Kirchen dort als neu, modern und unverbraucht empfunden werden.
  • Sekten sind klassische Nischenanbieter. Sie bedienen eine spezielle Erwartungshaltung meist auch noch für ein bestimmtes gesellschaftliches Milieu. Durch diese Beschränkung können sie ihre (in der Regel zahlenmäßig recht kleine) Zielgruppe optimal ansprechen. Die Kirchen müssen immer die Vielfalt der Bedürfnisse und der Milieus ihrer Mitglieder im Auge haben - die ja die gesamte gesellschaftliche Vielfalt repräsentieren - und können sich deshalb nicht auf eine einzelne Zielgruppe beschränken. Die Sendung der Kirchen hat alle Menschen im Blick und nicht nur eine zahlenmäßig recht kleine Nische.
  • Mitunter beeindruckt an Sekten die Ernsthaftigkeit und Konsequenz in der Lebensgestaltung der Mitglieder, ihr Engagement für die Gruppe und die gemeinsame Überzeugung. Bei den großen Kirchen kritisiert man Mitläufertum und Anpassung an gesellschaftliche Trends. So sehr man dies beklagen kann, ist auch das eine Frucht der Freiheit, die große Gemeinschaften ihren Mitgliedern lassen. Hinter Konsequenz und Engagement steht häufig ein subtiler oder auch offen ausgeübter Gruppendruck bis hin zu angedrohten göttlichen Strafen für das Nichtbefolgen der Sekten-Lebensregeln. In Sekten findet man deshalb selten Raum zur Entfaltung der eigenen Individualität bzw. wird diese sogar als bedrohlich für den Gruppenzusammenhalt dargestellt.

Mancher faszinierende Zug einer Sekte entspringt also ihrer Größe (bzw. besser gesagt der Überschaubarkeit der kleinen Gruppe) oder ihrem Alter (d. h. dem Fehlen einer eigenen Geschichte). Bei entsprechender Größe bzw. Alter könnten auch sie den oben geschilderten Prozessen der Institutionalisierung und Anonymisierung nicht ausweichen. Mit anderen Angeboten besetzen sie Nischen, die andere Gemeinschaften aus guten Gründen nicht besetzen wollen.

Als Anfrage an die großen Kirchen könnte man Sekten insoweit verstehen, dass sie Bedürfnisse mancher Menschen aufzeigen, welche sie in den Gemeinden der großen Kirchen nicht erfüllt sehen. Manche dieser Bedürfnisse können und wollen die großen Kirchen nicht erfüllen, weil sie ihrem Selbstverständnis widersprächen bzw. auch dazu führen würden, dass eine große Zahl von Gemeindemitgliedern eine solch "versektete" Kirche verlassen würde. Es ist sicher nicht nur der Familientradition geschuldet, dass die Anhängerzahl von Sekten verschwindend gering ist im Vergleich zu den Kirchenmitgliedern. Die Sekten werben seit ca. 50 Jahren intensiv um Mitglieder. Dass sie bei diesem Einsatz so wenig Anhänger haben, beweist, dass die überwiegende Mehrzahl der Menschen sich in ihnen nicht heimisch fühlt und die freiere (wenn auch anonymere) Atmosphäre anderer Gemeinschaften (einschließlich der großen Kirchen) bevorzugt. Bei anderen Bedürfnissen sollten sich aber auch die großen Kirchen selbstkritisch fragen, ob es zuwenig Angebote dafür gibt bzw. die existierenden Angebote nicht ausreichend bekannt sind.

Eine Möglichkeit, mit manchen der oben geschilderten Bedürfnisse umzugehen, könnte in neuen geistlichen Gemeinschaften und kleinen überschaubaren Gruppen in den Gemeinden bestehen (siehe die Rubrik "Alternativen"). Sicher sollte man auch fragen, wie solche oben geschilderten Bedürfnisse entstehen können. Sie müssen für den einzelnen recht drängend sein, wenn er zu ihrer vermeintlichen Erfüllung solche Nachteile in Kauf nimmt, wie sie eine Sektenmitgliedschaft mit sich bringt. Hier könnte man fragen, was im Vorfeld getan werden müsste, um risikoärmere Alternativen für den Umgang mit diesen Bedürfnissen zu finden bzw. anzubieten. Allerdings ist das wohl nicht nur eine Aufgabe der Kirchen, sondern zuerst der gesamten Gesellschaft.

Nicht zu vergessen ist auch, dass der religiöse Pluralismus in einer freiheitlichen Gesellschaft ganz normal ist. Religiöse Splittergruppen hat es in jeder freien Gesellschaft gegeben und wird sie auch weiterhin geben. Mit dieser Erscheinung zu leben, gehört zu den normalen Lebensvollzügen des Pluralismus.