Eine Arbeitskollegin berichtet

Ich fand eine Anstellung in einer kleinen Firma in Wien, die medizinische und pharmazeutische Literatur beschafft. Große Pharmaziekonzerne müssen diese für Ihre Studien als Quellennachweise erbringen. Das war, was dieser kleine Dienstleister tat. Wir recherchierten, in welcher Bibliothek ein gewisses Journal verfügbar war, und beschafften dann Kopien der gewünschten Literatur, welche wir unseren Kunden zur Verfügung stellten.

Schon an meinem ersten Arbeitstag wurde ich darauf hingewiesen, dass ich von meiner Kollegin, Karin* ziemlich sicher auf meinen Glauben angesprochen werden würde. Sie sei Mitglied in der so genannten Holic- Gruppe, was man anhand ihrer Adresse herausgefunden hatte (sie lebte in der Wohngemeinschaft der Holic- Anhänger in Wien). Sie hätte in Norwegen eine Computerfirma besessen, hätte alles verkauft und wäre nach Wien ausgewandert um sich dieser Gruppe anzuschließen. Sie sei sehr still, eine Eigenbrötlerin, nur über ihren Glauben würde sie gerne sprechen wollen, um zu missionieren.

Diese Erfahrung machte ich dann sehr schnell, als ich sie in eine der Fachbibliotheken begleiten musste. Sie fragte nach meinem Glauben und ich antwortete, dass ich an Gott glauben würde, aber nicht so wirklich an die Bibel. Sie versuchte mir die Wahrheit der Bibel mit diversen Stellen aus eben dieser zu beweisen, ließ dann aber von ihrem Versuch der Missionierung ab. Sie hat mich auch nie wieder darauf angesprochen. Nachdem ich einige Informationen über die Holic-Gruppe gelesen hatte, gehe ich davon aus, dass ich für sie den Status einer Ungläubigen einnahm, einer armen Sünderin, der ohnehin nicht mehr zu helfen wäre.

Den Arbeitsalltag mit Karin empfand ich als zermürbend. Jeder Teamgeist, jeder Anflug von Humor verflog, sobald sie den Raum betrat. Es gibt Menschen, die nennt man Energiefresser, sie war ein Humorfresser. Es wurde alles kalt und steif, wenn sie da war.

Die Kontakte zu den anderen Kollegen beschränkten sich bei ihr auf das Allernötigste. Nur dienstlich wurden, wenn auch wenige, Worte gewechselt. Zu privaten Dingen gab es keine Gespräche. Grundsätzlich sah sie kein Problem darin Forderungen zu stellen, wenn etwas gegen ihre Prinzipien ging. Auf andere ging sie keinen Schritt zu. An Feiern in der Firma nahm sie nicht teil. Auch außerhalb der Firma gab es keine Kontakte zu ihr. Wenn man ihr auf der Straße begegnete, gab es nur einen kurzen Gruß.

Ich arbeitete 4 Jahren in diesem Unternehmen, schlau wurde ich aus Karin nie. Es schien, als wäre in ihren Augen einfach alles Sünde, was das Leben verschönern könnte. Zum Spaß das Horoskop in der Tageszeitung lesen - Sünde, den Geburtstag überhaupt nur bekannt geben - Sünde, Musik im Radio hören - Sünde, gemeinsames Mittagessen - Sünde, Gespräche, die sich nicht um die Bibel drehen - Sünde, die Weihnachtsfeier - Sünde. Es gab kaum eine Möglichkeit sich nicht sündig zu verhalten.

Für mich als Außenstehenden war es wirklich schwierig, mit ihr zu arbeiten. Zum einen brauche ich Hintergrundgeräusche bei meiner Arbeit, ich kann mich dann besser konzentrieren. Es quält mich, wenn alles um mich herum still ist - stundenlang. Aber sobald sie den Raum betrat, wurde unser Radiogerät abgedreht. Sie bemühte sich, wenigstens ein bisschen Rücksicht zu nehmen und ließ es ab und zu doch laufen, wenn sie nur kurz im Büro war (ihre Aufgabe war vor allem die Beschaffung der Literatur direkt in den Bibliotheken), aber mich, als damals junges Mädchen mit 19 Jahren, hat es sehr oft wütend gemacht, dass sie so oft über uns andere mit bestimmt hat und uns durch ihre Lebensführung ebenfalls das Hören von Musik verbot.

Das nächste schwierige Thema war die zu beschaffende Literatur an sich. Es kam ab und an vor, dass unsere Kunden auch Literatur zum Thema Schwangerschaftsverhütung oder auch Abtreibung forderten. Sie weigerte sich, diese Literatur zu beschaffen. Nicht nur einmal mussten ich oder meine Kollegen Überstunden machen, um ihre Arbeitsverweigerung ausgleichen zu können. Das waren nicht viele Sachen, dennoch empfand ich es als sehr unfair. Ich möchte hier gar nicht so sehr zum Thema Verhütung/ Abtreibung Stellung beziehen, ich bin nur definitiv der Meinung, dass jemand auf beruflicher Ebene mit dem Thema umgehen können muss, ansonsten ist er im falschen Job. Dieses Thema war es auch, das Karin schlussendlich ihre Arbeit kündigen ließ: Sie "könne es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, solche Literatur zu beschaffen."

Wir erfuhren kaum etwas von Karin. Sie beantragte mehrmals jährlich Urlaub und zwar (unbezahlt) über ihren gesetzlichen Urlaubsanspruch hinaus (das sind bei uns in Österreich 25 Arbeitstage bei einer 5- Tages- Woche). Wir erfuhren nur, dass sie dann mit ihren Mitbewohnern auf Reisen war. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um Missionsreisen handelte. Karin fuhr fast täglich mit dem Rad zur Arbeit, einmal hatte sie kurz vor dem Büro einen Unfall (das war vor meiner Zeit und ich weiß diese Begebenheit nur aus Erzählungen). Man bot ihr die Möglichkeit, sich im Büro hinzulegen und rief ihre Mitbewohner an. Kein einziger bequemte sich dazu, ins Büro zu kommen und sie abzuholen oder ihr zu helfen. Ich habe auf ihrer Homepage gelesen, dass diese Gruppe der Meinung ist, Krankheit und Verletzung käme als Strafe für Sünde, ich nehme also an, dass man dachte, sie hätte gesündigt und deshalb den Unfall gehabt. Diese Einstellung zum Leben, diese Einstellung zu anderen Mitmenschen empfinde ich als hochgradig empathielos, kalt und arrogant. Vollkommen anders, als ich mir einen "wahren Christen" vorzustellen wage, dem die Brüderlichkeit, die Hilfsbereitschaft und das Mitgefühl doch eigentlich sehr wichtig sind.

Karin aß grundsätzlich alleine zu Mittag und sie aß nur die allerbilligsten Lebensmittel (chinesische Instantnudeln, die man mit heißem Wasser übergießt, für wenige Cent). Ich nehme an, auch das hatte den Grund in der Sekte (nicht verschwenderisch sein). Während der Mahlzeiten las sie immerzu in der Bibel, die gesamten 4 Jahre, die ich mit ihr zusammenarbeitete. Am Ende meiner Zeit in dieser Firma musste sie sich einer OP unterziehen, sie hatte große Rückenprobleme. Von dieser OP kehrte sie sogar VOR der vereinbarten Krankenzeit zurück, nahm sich also nicht einmal die gesamte Genesungszeit. Auch unser Chef war diesbezüglich nicht erfreut, hatte er doch als Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht ihr gegenüber.

Ich verließ die Firma dann, hatte aber noch einige Zeit mit einem Kollegen freundschaftlichen Kontakt. Dadurch erfuhr ich auch, dass die Lebensgefährtin unseres Vorgesetzten in jungen Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte und letztendlich trauriger weise daran starb. Sehr kurz darauf kündigte Karin, da sie die Arbeit "mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte". All die Jahre, die das jetzt her ist, wurde ich das Gefühl nie los, dass sie die Erkrankung unserer Vorgesetzten als Strafe Gottes für die Beschaffung der "sündigen" Literatur empfand und es mit der Angst zu tun bekam. Dies ist aber nur mein subjektives Empfinden!

 

* - Name und Orte geändert

abgefasst: 2018